Brauch: Handlung oder Handlungssequenz, welche in gegebenen und bekannten Kommunikationssystemen (Völker, Stämme, Belegschaften u.ä.) durch bestimmte Anlässe (Termine, Vorfälle usw.) regelmäßig und gleichförmig ausgelöst wird. –
Die Disposition zur Teilnahme am ~ bzw. zum Vollzug eines ~es wird durch Kontingenz erworben. Insofern fällt er mit der (oder einer) Gewohnheit (engl. habit) zusammen, scheidet sich semantisch von ihr nur unscharf durch die Betonung der Bewußtheit, mit welcher der Anlaß der Handlungssequenz wahrgenommen wird, aus welcher der ~ besteht, sowie der Bewußtheit der Handlungsdurchführung (für welche daher immer ein Wort existiert) sowie deren relativer Komplexität (die einfachsten Bräuche sind immer noch komplexer als die einfachsten Gewohnheiten, obwohl die kompliziertesten Gewohnheiten entschieden komplizierter sein können als die einfachsten Bräuche). Der ~ kann also nur als unscharf abgegrenzter Sonderfall einer Gewohnheit angesehen werden, da seine Entstehung, wie sie am angemessensten von der Lerntheorie beschrieben wird, dieselbe war; die älteren Sprachen tragen diesem Umstand Rechnung, indem sie individuelle »festgefrorene« Gewohnheiten ebenso wie gesellschaftliche Einzelbräuche und deren Gesamtheit unterschiedslos mit demselben Wort bezeichnen – lat. mos maiorum bedeutet die (als vorbildlich gepriesene) »traditionelle Lebensart«, wörtlich »den Brauch der Vorfahren«, während »ei mos est« ohne jede Wertung nur aussagt »er hat die Gewohnheit«, und ein »morosus«, d.h. »jemand, der viele mores (Plural von mos) hat«, ist ganz einfach ein »schrulliger Mensch«. Mit dem gleichbedeutenden griechischen Wort verhält es sich ganz ähnlich, und ebenso mit dem malaiischen Äquivalent adat; weitere Parallelen sind unzählig.
Die Entstehung und der individuelle Erwerb der ~e auf dem Kontingenzweg bringen es mit sich, daß ihr Inhalt beliebig ist (nicht anders als die Bewegung der Skinner'schen Tauben, Konditionierung); aber unter den Bräuchen wird eine Selektion stattfinden, nämlich dadurch, daß solche mit allzu schädlichen Folgen (welche z.B. im Sinne der Lerntheorie als Strafe wirken können) absterben, solche mit neutralen oder sogar günstigen sich festigen. (Dabei ist naheliegenderweise bedeutsam, für welchen Teil des Stammes diese Folgen durchschnittlich günstig oder ungünstig sind; je einflußreicher dieser Teil ist – seien es auch nur »die erfolgreichen Jäger« usw. vs. »die Jungen/die Schwachen« –, umso eher wird sich der ~ festigen, wenn er sich für sie günstig auswirkt, usw.).
Vom ~ zweigen Ritus und Gesetz ab, ersterer, wenn zur Durchführung eines ~s herausgehobene Individuen in aktiver Funktion notwendig werden, welche wegen für sie günstiger Folgen dazu tendieren, ihn einerseits an sich zu ziehen, andererseits ihn zwecks Steigerung seiner suggestiven Wirkung auszugestalten – und letzteres, wenn eine Reflexion über seinen Nutzen und Schaden, seine Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit eingesetzt hat. Es läßt sich feststellen, daß der Ritus schon sehr früh, d.h. in äußerst einfachen Gesellschaften als Teil des ~s und mit m.o.w. spezialisierten Trägern nachzuweisen ist, der Sprung vom ~ zum Gesetz jedoch erst sehr spät, nämlich lange nach der Entwicklung der Schrift. Auch nach Entstehung echter – schriftlicher oder, wie im ältesten Island, schriftäquivalent festgehaltener Gesetze – kann noch lange ein Spannungszustand zwischen Gesetz und ~ bestehenbleiben.
Sehr interessant ist ein Zusammentreffen der Schriftlichkeit mit einer noch relativ ursprünglichen, aber sich stürmisch entwickelnden und politisch unabhängigen Stammesgesellschaft, etwa im Falle der Germanen während der »Völkerwanderung« und vor allem der Israeliten irgendwann nach der Schlacht von Kadesch, spätestens beim Tempelbau Salomos. Der Sprung vom ~ zum Gesetz kann dadurch dramatischen Charakter annehmen; sein wirksamstes Produkt wurde im letzteren Fall die »Bibel« bzw. deren wichtigster Teil, der dementsprechend Thora ( übersetzt mit »Gesetz«, griech. ) genannt wird und hauptsächlich aus der zu Gesetzen umgeschriebenen Gesamtheit der Stammes~e in sagenhafter Rahmenhandlung besteht. Den Rationalitätsfortschritt enthält die bewußte Fixierung und die einheitliche, fiktive Ätiologie, den irrationalen Ursprung verrät ihre Bestimmung als Willensäußerung eines Gottes.
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