Nominalismus: die Erkenntnis, daß Worte bzw. Begriffe keine eigene Realität aufweisen, sondern nur menschengemachte Lautfolgen sind, welche mit wirklichen oder gedachten Dingen oder Zusammenhängen willkürlich (= konventionell) zum Zwecke der Verständigung in Verbindung gebracht werdenverba sunt nomina« lat. für »Worte sind Namen [bzw. Benennungen]« war das Schlagwort der dazugehörigen Denkrichtung des 12. Jh.s, welches vorzugsweise von Klerikern getragen wurde, deren internationales Verständigungsmittel bekanntlich Latein war. Sie dachten bei diesem Satz als Muster gewiß an die Sage von Adam, der den Tieren Namen gab [Gen. 2,19sq.] also willkürlich feste Verbindungen zwischen den Tierarten und von ihm erschaffenen Lautfolgen festlegte). Die entgegenlautende Parole war »verba sunt res« (lat. »Worte [bzw. Begriffe] sind Dinge«, d.h. existieren wirklich), weswegen die dem ~ entgegengesetzte Denkweise Realismus genannt wird (bisweilen, um sie von der gleichnamigen sehr viel späteren Kunstrichtung oder einigen vulgarisierten Bedeutungsableitungen zu unterscheiden, auch als »Begriffsrealismus« bezeichnet).
     Nach Einsicht des Nominalismus läßt der Gebrauch (die einzige Existenz, die ein Wort haben kann) also nur den Schluß zu, daß irgendwelche Menschen das Bedürfnis empfanden oder empfinden, sich über irgendeine Vorstellung zu verständigen; ob diese Vorstellung durch Wahrnehmung, Fehlwahrnehmung oder Phantasie zustandegekommen ist, läßt sich aus dem Gebrauch bzw. der Existenz des Wortes nicht ableiten. Wissenschaftliches Denken, das nicht »zwiedenk« i.S. von Orwell werden will, kann nur auf der Grundlage des ~ entstehen bzw. funktionieren; seine Wiederentstehung in Westeuropa etwa zwei Jh.e nach dem Aufkommen des ~ ist also durch diesen entscheidend vorbereitet worden. Es ist sicher kein Zufall, daß der ~, dessen gedankliches Niveau das beste der Antike wieder erreicht, genau dann aufkam, als erstmals die Zivilisationshöhe Westeuropas nach ca. 800jähriger Unterbrechung wieder der klassisch antiken gleichkam (und von da an kontinuierlich anstieg). Auch die Aufklärung bzw. jedes auch nur einigermaßen aufgeklärte Denken setzt die Einsicht des ~ voraus, gleichgültig, ob dieser namentlich bekannt ist oder nicht (so wie das Sprechen in metrisch nicht gebundenen Sätzen nicht die Kenntnis des Wortes »Prosa« voraussetzt).
     Es ist naheliegend, daß die Erkenntnis des Nominalismus rasch zur Religionskritik führt (die nach den Umständen der Zeit und der Umgebung nur den Charakter der Dogmenkritik annehmen konnte). Die Folgen davon waren, daß

  1. seine authentischen Vertreter (vor allem Roscelin von Compiègne, dessen in Hinsicht auf den ~ sogar weniger konsequenter Schüler Abaelard und William von Occam [auch Ockham geschrieben]) ein äußerst gefährdetes Leben führten und auch wirklich nur sehr knapp oder schlecht überlebten sowie

  2. oft zu umschreibender, verhüllender oder zweideutiger Ausdrucksweise sowie manchmal zu regelrechten Lügen (Wahrheit) Zuflucht nehmen mußten;

  3. eine unabsehbare Menge Schriften erschien, die sich als dem ~ zugehörig ausgaben, ohne es zu sein, oder versuchten, ihn durch m.o.w. ausgedehnte Inkonsequenzen mit dem Realismus vereinbar zu machen oder schließlich durch sorgfältige Entstellungen und Isolationstechniken um seine kritische Substanz zu bringen, um anschließend in seinem Namen zu sprechen.

Diese letzte Abwehrvariante erwies sich in den beiden Folgejahrhunderten als die erfolgreichste; ihre Haupttendenz wurde dementsprechend die »Trennung von Glaube und Wissen«, die als theologische Defensivwaffe ihre Nützlichkeit bis heute nicht verloren hat (als ihr bekanntester Vertreter sei Gerson genannt, der unter den am Prozeß gegen Hus beteiligten Kirchengelehrten wohl der seinerzeit prominenteste war). Dies erklärt, warum in den späteren Generationen nach der Blütezeit des authentischen ~ gerade die Verfechter einer entschiedenen Kirchen- und Dogmenkritik immer wieder und subjektiv aufrichtig ausgerechnet als Vertreter des Realismus auftraten und auch so empfunden wurden (da dieser als »wenigstens ernsthaft«, das, was für ~ gehalten werden sollte, als »akademisch, aber windig« galt. An dieser Stelle wurzeln bis heute die meisten volkstümlichen Vorstellungen und sprachlichen Konnotationen über die Scholastik).
     Wie konnten die echten Vertreter des Nominalismus überhaupt überleben (wie eingeschränkt auch immer), und warum versuchte die Kirche, längere Zeit sogar erfolgreich, ihren Namen auf ihre verläßlichsten Hausdenker umzuschreiben statt zu bekämpfen? Der Grund liegt in dem zwar unzuverlässigen, aber nicht bagatellisierbaren Schutz, den ihnen zwei kleine Bevölkerungsgruppen boten, die durch den neuen technischen Entwicklungsschub teils entstanden, teils stärker und in jedem Fall wichtig geworden waren: große Feudalherren, die gegen die Begehrlichkeiten der Kirche opponierten (z.B. Kaiser Ludwig der Bayer) und das erstmals aufstrebende städtische Bürgertum (z.B. das Pariser). Diese Kräfte hatten an der Dogmenkritik ein natürliches Interesse und kamen dadurch teils als Asylgeber, teils als breites und dadurch schützendes Publikum bei öffentlichen Disputationen in Frage (darum wich z.B. der hl. Bernhard von Clairvaux einer angekündigten öffentlichen Disputation mit Abaelard aus und sorgte für dessen Diskriminierung und Verfolgung). Dieses historische Kräfteverhältnis ermöglichte das Überleben der wichtigsten Schriften des ~ bis heute und motivierte dadurch die generationenlange Verwässerungs- und Verfälschungsarbeit an ihrem Gehalt. Umgekehrt boten sie späterem kritischen Denken eine Grundlage, so Hobbes und Francis Bacon.
     Der ~ übernimmt seine Hauptgedanken und -schlagworte von den arabischen Aristoteleskommentatoren Ibn Ruschd (= Averroës) und Ibn Sina (= Avicenna). Diese beiden, von denen der spätere sogar eine umfangreiche Widerlegung al-Ghazalis geschrieben hat (d.h. des exakten islamischen Äquivalents zu St. Thomas von Aquin), sind in jeder Hinsicht Nominalisten ante datum; auch sie schrieben in einem totalitären System, so daß nicht leicht zu entscheiden ist, ob ihre Konstrukte, insbesondere die »Trennung von Glaube und Wissen«, welche der Religion ein Schlupfloch lassen, ihre eigenen Ansichten wiedergeben sollen oder Schutzbehauptungen sind; werden sie später wieder aufgenommen, so kann sowohl das eine wie z.B. bei Burridan und Gerson, d.h. unbestrittenen Kirchenvertretern wie auch das andere vorliegen (so sicherlich bei Occam; das war auch die für ihn folgenreiche Vermutung des zeitgenössischen Papstes). Die dem ~ zugrundeliegende Einsicht ist aus naheliegenden Gründen sehr viel älter als dieser; so sagt z.B. in Zurückweisung entgegengesetzter, nämlich platonischer Ansichten der altgriechische Philosoph Antisthenes treffend: »Das Pferd sehe ich wohl, aber nicht die 'Pferdigkeit'«.

 

 

Wichtigste Schriften: Abaelard, Sic et non; Logica. William von Occam, Summa logicae; Roger Bacon, Opus maius; Opus minus; Opus tertium; Compendium studii philosophiae. Zu den arabischen Vorläufern: Jaya Gopal, Gabriels Einflüsterungen (Ahriman), cap. 11; Ibn Warraq, Why I am not a Muslim (Prometheus Books). Zur Orientierung über die Sachfrage: Fritz Erik Hoevels, Die zwei Arten des Denkens, System ubw, Freiburg 1998, p. 26sqq 


 
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