Realismus: Realismus (von lat. res »Sache«, also etwa: »Sachlichkeit«):
1) die Behauptung, die Begriffe (Worte, Bezeichnungen) besäßen eine eigene, sogar besonders stabile Existenz neben dem von ihnen Bezeichneten, sowie das System davon abgeleiteter Behauptungen. Der Grundsatz, von welchem der Name stammt, lautet: verba sunt res (»Worte sind Dinge«, d.h. »etwas Reales«); er ist die Retourkutsche zur Erkenntnis des Nominalismus verba sunt nomina (»Worte sind Namen«, d.h. »bloße Bezeichnungen«). Dadurch wird der ~ dem Platonismus/Idealismus sehr ähnlich, welcher eine Eigenexistenz des »Wesens« () der Dinge neben ihrer konkreten, notgedrungen stets einzelnen Existenz als deren Idee (, von »Bild«) behauptet, d.h. den rein intellektuellen Akt der Abstraktion bzw. Kategorienbildung materialisiert (bzw. da er dessen Materialität normalerweise leugnet, zum Ding [res] macht, welches nicht nur selber existiert, sondern sogar die ihm zugeordneten Dinge selber hervorbringt, welche von nun an nur noch als dessen – sogar unvollkommene – »Verwirklichungen« gelten. Die Psychoanalyse ortet die psychische Basis dieser ungeheuerlichen Verdrehung in der narzißtischen Besetzung der eben erlernten Worte beim Kleinkind, das deren Wirkung in der Folge grandios überschätzt; denn die erhebliche und sozial in der Tat sehr wirksame Aneignung derselben als fundamentale intellektuelle Leistung [»Ichleistung«] hat ja wirklich stattgefunden). Der ~ ist die mittelalterliche Adaptation bzw. Modifikation des klassischen Platonismus (welcher aber nicht direkt dem Original entnommen wird, sondern – auf Umwegen – den entsprechenden, massiv von ihm beeinflußten Schriften des Aristoteles). Dementsprechend verlegt er die »Realität« der Begriffe in den Geist Gottes (d.h. Jahwes); dieser Gott soll nicht nur existieren, sondern auch sich etwas ausdenken, z.B. Pferde, Blumen oder Krankheiten, und als Folge davon realisieren sich diese danach in allerhand Einzelexemplaren.
Da diese Behauptung – die schon in ihrer antiken Originalform sofort auf Spott und Widerspruch stieß – sehr abwegig und verstandeswidrig ist, mußte ihrer Verbreitung rasch und oft mit Gewalt und verwandten Mitteln nachgeholfen werden. Ihr Hauptvertreter, der im weiteren Zusammenhang dort die theoretische und maßgebliche Grundlage der Hexenverfolgung entwickelt, ist der hl. Thomas von Aquin in seinem Hauptwerk »Summa theologica«.
Um den ma. ~ von der späteren Kunstrichtung gleichen Namens (hier 2) unterscheiden zu können, wird er öfters verdeutlichend »Begriffsrealismus« genannt.
2) Kunstrichtung, deren Ziel in der Wiedergabe von Situationen, optischen Wirklichkeits-ausschnitten oder Handlungen besteht, die sich tatsächlich in allen Einzelheiten so abgespielt haben könnten bzw. so aussehen könnten, wie sie wiedergegeben werden. – Der Begriff wurde, als er im 19. Jhd. aufkam, zunächst wenig präzise verwendet und umfaßte sogar den Symbolismus; wesentlich war die tadelnde Kennzeichnung der Realisten als Künstler, die »alles sagen, alles darstellen« (offenbar im Gegensatz zur »Schicklichkeit«, welche Auslassungen thematischer oder substantieller Art, auch des Wortmaterials, gebietet). Wichtig für den ~ wird der Verzicht auf jede konventionelle Stilisierung in der Darstellung, welche der Realität zuwiderlaufen könnte (Personen unterhalten sich z.B. niemals in Versen); die positive Forderung an den dem ~ verpflichteten Künstler wird dementsprechend sowohl die genaue Beobachtung realer Situationen, die den Rohstoff für sein Werk abgeben könnten, wie auch deren übergreifendes Verständnis. Die letztere Forderung, die die Konsequenz möglicherweise anstoßerregender Gesellschaftskritik provoziert, wird zugunsten einer Radikalisierung der ersteren von vielen Künstlern abgelehnt; dadurch wandelt sich bei ihnen der ~ zum Naturalismus, der auf das Verständnis der von ihm vorgestellten Vorgänge und daher erst recht auf dessen Vermittlung an das Publikum verzichtet bzw., wenn er in extremer Form auftritt, dieses absichtlich umgeht (was konsequent im »nouveau roman« von Butor, Sarraute u.a. verwirklicht wird).
Der typische ~, wie er mustergebend in den Romanen Balzacs und Flauberts verwirklicht wird, welche auch ungezählte außerfranzösische Nachfolger finden, weist also eine doppelte Frontstellung auf: einerseits gegen den Klassizismus, dessen teils konventionelle, teils »schickliche« Stilisierungen und Auslassungen als wahrheitsfeindlich abgelehnt werden, andererseits gegen die Romantik, deren Tendenz zur Phantastik und zur im Detail kaum mehr überprüfbaren, gewöhnlich ma. Vergangenheit die gleiche Opposition finden. (Damit wird der Symbolismus grundsätzlich vom ~ abgespalten; jedoch verteilt gerade der bedeutendste Repräsentant des ~, Flaubert, seine Werke einigermaßen gleichmäßig auf beide Stilrichtungen, ohne diese jemals zu vermischen).
Die oberste Tugend des ~ ist demnach die Wahrheit; auf sie berufen sich auch die dem ~ verpflichteten Künstler gegen die Angriffe des Staates und seiner Zensur oder sonstigen Verfolgungsorgane (so besonders hartnäckig und nachhaltig z.B. Arno Schmidt). Nun ist eine Handlungsdarstellung praktisch unmöglich, ohne eine Parteinahme des Publikums für die eine oder andere Seite oder Position hervorzurufen; die Naturalisten täuschen eben dieses freilich vor, ohne es allerdings normalerweise leisten zu können (da das Interesse des Lesers, würde diese Leistung vollständig gelingen, automatisch erlöschen würde). Würden bei der Wiedergabe möglicher menschlicher Realitätsausschnitte diese nicht willkürlich extrem klein gewählt bzw. die Forderung nach realitätsgetreuer Wiedergabe nicht künstlich auf fragmentierte Details beschränkt, so würde die Abfassung eines größeren realistischen Werkes, das eine rational oder moralisch kritisierbare Gesellschaft hintergrundsweise wiedergibt – der realistische Künstler ist ja auf die eigene verpflichtet, die er alleine aus erster Hand beobachten kann, und er kann sie sich daher im Gegensatz zu anderen Künstlern nicht aussuchen –, mit Notwendigkeit die Kritik dieser Gesellschaft im Leser fördern, denn andernfalls hätte der Verfasser die Prinzipien des ~ umgangen. Dies gilt auch für den Fall, daß er selber für besagtes Unrecht oder eine davon profitierende Schicht Partei ergreift bzw. Vorlieben hegt, wie Balzac für den konterrevolutionären (=antibürgerlichen) Adel; sein Werk unterläuft dann diese persönliche Parteinahme, wenn er, wie in eben diesem Falle geschehen, am ~ festhält. Dieses Phänomen, das sich weit über den Fall Balzacs hinaus verallgemeinern läßt, hat Fr. Engels den »Triumph des Realismus« genannt (MEW Band 37, p. 42).
Die Gesellschaft, welche in den literarischen Werken des ~, teils auch solchen der bildenden Kunst, ausschnittweise dargestellt ist und bei dieser Gelegenheit oft ihre Vorzüge gegenüber der mittelalterlichen (feudalen oder, in deren Fortsetzung, absolutistischen) vorweisen kann, ist zunächst die bürgerliche. Mit der Entstehung der Sowjetunion und schließlich der von ihr abhängigen Staaten, deren Regierungen zunächst mit voller, dann mit einiger und bald mit sehr geringer Überzeugungskraft die Absicht verkündeten, die ihnen gegebenen Gewaltmittel zur Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft einzusetzen, weshalb ihre Staatswesen als »sozialistisch« zu charakterisieren seien, begann die Forderung nach Ablösung des bürgerlichen ~ durch einen »sozialistischen ~«. Indem diese Forderung von einem Gewaltapparat, der über Gehälter, Publizität usw. verfügte, an die Künstler herangetragen wurde, konnte ein möglicherweise entstehender »sozialistischer ~« nicht mehr das Ergebnis eines »Triumphes des ~« sein; denn das Resultat der Parteinahme war ja äußerlich vorgegeben, keineswegs mehr die Konsequenz der Verfolgung gewisser ästhetischer Prinzipien auch gegen die mitgebrachte, erst recht gegen eine aufgenötigte Parteinahme des Künstlers. Infolgedessen eignet den Werken des »soz. ~« trotz Übernahme einiger äußerlicher Stilmerkmale des bürgerlichen ~ stets eine unverkennbare, dem ~ entgegengesetzte Idealisierung der Darstellung, wie sie in den etwa gleichzeitigen Hervorbringungen der offiziellen Kunst der zeitgenössischen imperialistischen Staaten, Frankreichs, Englands, Deutschlands und, besonders gut erhalten, der USA, recht ähnlich ebenso zu finden ist. –
I. w. S. bezeichnet »~« auch eine innere Haltung oder Schilderung, welche die Mängel des vorhandenen Gegenstandes oder der gegebenen Situation »der Wahrheit entsprechend« bedenkt oder berücksichtigt, also nicht übersieht oder verkleinert.
Ahrimans VolksEnzyklopädie
© By courtesy of Ahriman |