Demokratie: (gr. δημοκρατία, »Volksherrschaft«, von δῆμος »Volk« und κρατεἶν »herrschen«): Staatsform, deren einzige Funktion die Vollstreckung des Volkswillens ist. – Die ersten bewußten und zugleich normbildenden ~n bestanden längere Zeit in einigen Stadtstaaten der griechischen Antike, die berühmteste und bekannteste in Athen. Der Volkswille wurde durch Abstimmung in regelmäßig stattfindenden Volksversammlungen ermittelt. Um zu vermeiden, daß er durch überdurchschnittlich hohe Abwesenheit der ärmeren Bürger verzerrt werde, die ja durch Versammlungsteilnahme einen Arbeitstag verloren, wurde diesen der entgangene Durchschnittsverdienst – nach einer historischen Anlaufphase – aus der Staatskasse ersetzt. (Noch ausgeprägter als in Athen war dieses Verfahren in Rhodos.) Die Authentizität dieser namengebenden ~ wird auch dadurch deutlich, daß es keine Kompetenzeinschränkung der Volksversammlung gab, solange die ~ bestand.
Zahlreiche wenig entwickelte Völker besaßen ebenfalls Einrichtungen, die der ~ entsprachen, z.B. viele Papuaner; diese Einrichtungen hatten für ihre Gesellschaften viele analoge Folgen wie für die griechischen ~en, z.B. ein gestiegenes Sprachbewußtsein, Entwicklung rhetorischer Formen und Erstellung formaler Strukturen zur Gewährleistung der Chancengleichheit der Meinungsäußernden (cf. Tasol). Sie waren jedoch naturwüchsig entstanden und nicht – auf einer höheren Komplexitätsstufe der Gesellschaft und dementsprechend der zur Entscheidung anstehenden Materie – absichtlich für den angegebenen Zweck konstruiert und ihre Errichtung beschlossen. Weitere unzweifelhafte ~en existierten m.o.w. konsequent, aber meist kurzlebig in etlichen mittelalterlichen Stadtstaaten und Bauernrepubliken; sie leben noch in der Schweiz weiter, in reiner Form im Kanton Appenzell-Innerrhoden. Die Form der Volksversammlung ist durch die Fortschritte der Technik veraltet, welche persönliche Teilnahme überflüssig macht; eine Ja-Nein-Taste, fälschungssichere Chipkarte und öffentliche Diskussion der anstehenden Fragen – dies ist freilich der manipulationsanfälligste Punkt – durch möglichst unterschiedliche Positionsvertreter könnten sie ersetzen, ja funktional verbessern. Dadurch wäre ~ auch in modernen Flächenstaaten problemlos praktizierbar bzw. existenzfähig, Alphabetisierung und Freiheit der Meinungsäußerung sowie Informationsbeschaffung vorausgesetzt. Zur Umgehung des damals noch wesentlich unvollkommener lösbaren Problems der Einführung der ~ in Flächenstaaten, die ja keine bzw. keine genügend häufige Volksversammlung bzw. auch nur Volksabstimmung gestattete, entwickelte die Aufklärung, besonders Jean-Jacques Rousseau, fußend auf den authentischen Modellen, das Verfahren der Wahlen von Stellvertretern möglichst vieler Volksteile, deren Gesamtheit dann (als Parlament) sämtliche Gewalt auszuüben habe. Das technische Problem dieser »repräsentativen [=stellvertretenden] ~« besteht darin, wie genau und unverfälscht die dadurch zustandegekommene Gruppe, das Parlament also, den Volkswillen tatsächlich widerspiegelt. Auf jeden Fall läßt sich sagen, daß ein uneingeschränktes, möglichst differenziertes Listenwahlrecht zu einem Parlament führt, dessen Regierung einer ~ am nächsten kommt, ein eingeschränktes von ihr wegführt und ein gemäßigtes Mehrheitswahlrecht – wie z.B. in Frankreich – ihre Aufgabe nahezu nicht, ein extremes wie in England, überhaupt nicht erfüllen kann; aus Gründen innerer Logik und Wahrscheinlichkeitsrechnung führen solche Institutionen nicht zur ~, sondern zur Oligarchie i.S. von Aristoteles (der erstmals diese staatstheoretischen Modelle systematisch diskutierte) bzw., wenn sich die Wahl auf eine von zwei bis drei Personen beschränkt, welchen erhebliche Vollmachten auf Zeit oder Lebenszeit übertragen werden, zur Monarchie i.S. von Aristoteles. In jedem Fall hätte durch die neuere technische Entwicklung das Hilfsmittel von Wahlen zur Herstellung einer ~ sehr stark an Bedeutung verloren, wenn irgendwo das Ziel ihrer Errichtung verfolgt würde.
Die marxistische Theorie behauptet, daß ohne die geeignete Klassenbasis der Wille zur Errichtung einer ~ nicht aufkommt und diese daher dann nicht errichtet wird (bzw., wenn vorhanden, wieder abstirbt). Als solche Basis gelten für die klassischen ~en die waffenfähigen Kleinproduzenten der griechischen Stadtstaaten (»Hopliten« = ), für die mittelalterlichen ~en bis einschließlich der Französischen Revolution die – insbesondere städtischen – Kleinproduzenten im Besitz ihrer Produktionsmittel (»Bürger«, in zweiter Linie freie oder befreite Bauern) und schließlich in steigendem Maße die kollektiv produzierenden, aber (noch) von ihren Produktionsmitteln juristisch getrennten Großproduzenten (»Arbeiter«, archaisierend nach lat. Vorbild »Proletarier«). Als personelle Basis der ~ erscheinen die Kleinproduzenten weniger problematisch als die eigentumslosen Arbeiter, da diese als ~grundlage nur geeignet sind, wenn sie das Problem kollektiver Selbstorganisation ohne Kontrolle durch die aktuell bestehenden Machtträger wenigstens ansatzweise lösen können; dafür ist die Produktionsweise der historisch älteren ~träger seit langem extrem unwirtschaftlich. Nach dieser Theorie sind die neuerlich bestehenden Verhältnisse der Errichtung (oder Wiedererrichtung) einer ~ also sehr ungünstig.
Literatur: Theoretisch: Aristoteles, Politika; Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Stuttgart (Reclam) 1977.
Historisch: Arthur Rosenberg, Demokratie und Klassenkampf im Altertum, Freiburg 1997; Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Liberalismus – Faschismus, Hamburg 1971.